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Henry Graffmann

Plädoyer für eine neue Kommunikationskultur

Plädoyer für eine neue Kommunikationskultur

Eine E-Mail, die 48 Stunden lang unbeantwortet im Postfach liegt, wird nicht mehr beantwortet. Das scheint heute, angesichts der Fülle an Informationen, der wir tagtäglich ausgesetzt sind, normal zu sein. So schlüssig diese Erklärung sich liest, so wenig befriedigend ist sie, so unvollständig ist sie. Sie suggeriert, dass die immer geringere Aufmerksamkeitsspanne im Alltäglichen zur Begründung genügt.

In unser Postfach werden tagtäglich die unterschiedlichsten Nachrichten gespült. Da ist die Anfrage aus Afrika, ob wir bei einer größeren Geldtransaktion behilflich sein könnten, der Newsletter der Versandhauskette, bei der wir vor langer Zeit einmal bestellt haben, eine Kontaktanfrage über XING oder Facebook, und dann noch die Anfragen von Kunden und/oder Kollegen, Freunden und Verwandten.

Ich bekomme täglich zwischen 10 und 20 E-Mails, von denen ich die Hälfte als beantwortenswert einstufe. Das heißt, dass wir bei den täglichen Anfragen per E-Mail, über XING, Twitter, Facebook und Co. ständig damit beschäftigt sind, eine Auswahl zu treffen zwischen Wichtig und Unwichtig. Das ist nicht nur erschöpfend, es führt auch zu Fehlern in der Bewertung und zu Informationen, die dem Vergessen anheim fallen. Zudem macht das tägliche Sieben und Sortieren nach Prioritäten die Nachrichten zunehmend unpersönlich. Sie werden verdinglicht. Der Mensch hinter der E-Mail oder dem Tweet tritt in den Hintergrund, bis er beinahe verschwunden ist. Das scheint mir ein normaler Prozess, ein Schutzmechanismus.

Eine E-Mail, die Tag für Tag in unserem Postfach weiter nach unten rutscht, zwickt unser Gewissen in den ersten Tagen, bis sie aus unserem Aufmerksamkeitsfokus verschwindet. Finden wir sie dann beim Ausmisten wieder, nach Wochen oder Monaten, dann kommt ein etwas ungutes Gefühl hoch, das wir schnell mit dem Gedanken beruhigen, dass es ja jetzt zu spät und zu unhöflich ist, noch darauf zu antworten.

Diese Mechanismen beschränken sich aber nicht auf das Medium E-Mail oder auf Social Networks. Es setzt sich fort im privaten und beruflichen Miteinander. Es entsteht eine Kultur des Ignorierens, des Sich-Nicht-Meldens, die ich unerträglich finde. Die Aussage "Ich melde mich die Tage bei dir, versprochen!" ist inzwischen gleichzusetzen mit "vielleicht melde ich mich mal wieder...". Als Selbständiger habe ich mich fast schon daran gewöhnt, auf Angebote keine Rückmeldung mehr zu bekommen, auf Anrufe keine Rückrufe und auf E-Mails keine Antwort.

Die beschriebenen Zustände scheinen zwangsläufig und tun so, als würden sie den Einzelnen entschulden. Dabei ist ist es immer einfach das eigene schlechte Gewissen mit den gerade herrschenden Umständen zu entschuldigen. Das zustimmende Nicken beim Lesen und das erleichterte Seufzen helfen uns nicht weiter.

Eine E-Mail oder einen Anruf nicht zu beantworten, hat nicht nur mit einem selbst zu tun. Es ist immer auch ein Zeichen und eine Nachricht an denjenigen, der einen im ersten Schritt kontaktiert hat. Es bewirkt etwas in dem Gegenüber, der eben kein Gegenüber mehr ist, da er irgendwo auf der Welt sein kann und vermutlich vor einem Bildschirm sitzt. Die Regeln des Miteinanders haben sich verschoben durch den tatsächlichen Abstand, der nun zwischen den Menschen ist. Es fehlt zur Beurteilung einer Stimmung oder eines Gefühls der Gesichtsausdruck des Gesprächpartners, es fehlt die Stimmlage und die restliche Körpersprache. Der Versuch, dies durch den massiven Einsatz sogenannter Smileys in einer E-Mail oder einem Blog zu ersetzen, ist eher peinlich und kontraproduktiv. Ein Blick in ein beliebiges Forum zeigt, wie schnell und drastisch sämtliche Hemmungen verloren gehen, die wir im direkten und persönlichen Miteinander zum Glück noch haben, und zu welchen haarsträubenden Mißverständnissen diese rein technische Kommunikation führen kann.

Es gibt den Begriff der Nettiquette, dem Versuch, eine Art von Benimmregeln zu definieren für die digitale Kommunikation. Angesichts der Dimension, die die digitale Kommunikation in unserem Alltag einnimmt, ist die Länge der Begrifssdefinition in der Wikipedia ein guter Hinweis darauf, wie ernst dieses Thema genommen wird, nämlich gar nicht.

Im Beruflichen ist die Mißachtung einer E-Mail und/oder eines Anrufes immer auch eine Geringschätzung der Leistung und des Aufwandes der Person, die den Kontakt sucht. Wenn ich hierzu ein paar Beispiele gebe, so werden diese banal erscheinen, vielleicht, weil wir uns so an diese Situationen gewöhnt haben.

Beispiel 1.
Ich besuche einen potentiellen Kunden und erstelle im Anschluss ein komplexes Angebot über die Erstellung einer Internetseite. Kundenbesuch und Angebot kosten mich zusammen 6 Stunden. Darauf keine Reaktion zu bekommen, ist ärgerlich und frustrierend. Ich höre schon die zynischen Reaktionen. "Das gehört zum Job dazu". "Dann hättest du dich nicht selbständig machen dürfen". Nur weil mein Umfeld scheinbar abgestumpft ist, muss ich mich nicht klaglos einreihen und diesen Zustand durch Stillschweigen befördern.

Beispiel 2.
Ich arbeite 2 Tage an einer Internetseite, bevor diese online geht und informiere meinen Kunden über die Änderungen. Es kommt ein Anruf "ich melde mich morgen dazu bei Ihnen". Es folgt wochenlanges Schweigen. Ungewöhnlich? Falscher Kunde? Nein, leider Alltag.
Und wenn der Kunde noch so beschäftigt ist, reicht die Zeit, um ein kurzes "habe viel zu tun, melde mich sobald ich Zeit habe" zu senden. Das sind weniger als 140 Zeichen, damit sogar SMS- und Twitter-kompatibel.

Ich habe keine Lösung für den beklagten Mangel an Achtung. Ich würde mich freuen, wenn dieser Text schlicht und einfach verstanden wird als ein Aufruf, auch in Zeiten von Time Management, high efficiency working, facebook, twitter und co. den Menschen nicht zu vergessen, mit dem wir über die modernen Medien verbunden sind.